Wir krochen aus dem Gebüsch hinter den Bahngleisen, uns vorsichtig umschauend, dass uns niemand vom schräg gegenüberliegenden Bahnhof bemerke und legten jeder ein Ohr auf die Schiene, so, wie ich es schon in Westernfilmen gesehen hatte. Und ich fragte mich wieder einmal, was das für ein Geräusch sein müsste, das man dann zu hören vermochte, denn ich hörte einfach nichts. Die Schiene war kalt und es rauschte ein wenig, aber auch nicht anders, als wenn ich mir eine Hand auf das Ohr legte und für mich deutete nichts auf einen sich nähernden Zug hin. Aber es war auch noch zu früh, die Schranken waren noch nicht heruntergekurbelt, und wenn das erstmal geschehen war, dauerte es noch eine halbe Ewigkeit, bis endlich der Zug kam. Hoffentlich fuhr die Lok voraus, und hoffentlich war es eine von den großen, schweren Dampflokomotiven mit vielen Rädern, was wichtig war, denn es gab auch Züge, bei denen die Lok als letztes angekoppelt war und die Wagen von hinten anschob, und dann gelang unser Vorhaben meistens nicht so gut, weil die Waggons viel leichter als die Lokomotive waren. Wir legten sorgfältig die Münzen auf die Schienen, nicht zu nah beieinander, denn sonst bestand die Gefahr, dass sie zusammenrutschten und miteinander verschmolzen. Es durften auch nicht zu viele sein, denn die Luft, die unmittelbar vor den Rädern aufgewirbelt wurde, konnte die Münzen vor dem ersten Kontakt wegwehen. Zum einen wären sie dann schwer wiederzufinden, da sie mitunter weit weg flogen und im Gleisbett zwischen Schwellen und Schotter kaum zu sehen waren, und zum anderen dauerte es einfach wieder sehr lange, bis der nächste Zug kam, und vielleicht wären wir dann gerade beim Essen gewesen oder hätten im Garten helfen müssen. Und ich hatte auch ein wenig Angst, dass der Zug entgleisen könnte, wenn man zu viele Münzen auflegte, das hatte mir mal einer der Erwachsenen gesagt, und das wollte ich auf gar keinen Fall, das würde richtig Ärger geben und den hatte ich schon ausreichend, da ich immer so viel anstellte…
„Nach drüben“ wurde bis zur Wiedervereinigung in sehr unterschiedlicher Weise verwandt. In Richtung Osten wurde mit dieser Aussage verbunden Unfreiheit und Mangelwirtschaft, in Richtung Westen Freiheit und Wohlstand.
„… und dann mach‘ ich ab nach drüben …“, hieß es oft in der Kindheit des Autors. In den 1970er Jahren fuhr er regelmäßig zum Familienurlaub „nach drüben“ gen Osten, in die DDR. Jeder Aufenthalt im Drüben war für ihn eine Entdeckungsreise in ein ganz anderes Land, ein ganz anderes Deutschland. Ein Ort voller spannender Abenteuer, die in dieser Form nur dort stattfinden konnten. Ein Ort unbeschwerter Kindheit.
„Nach drüben“ ist ein detailreiches Alltagsportrait und schildert die Erlebnisse und Erfahrungen des Autors während seiner Reisen in die DDR, zu Familie und Freunden. Durch diese wertfreie Erzählung aus der Perspektive eines Kindes aus Westdeutschland wird deutlich, dass die Politik ein anderes Leben im anderen Teil Deutschlands vorgab, genau das aber den Reiz für den Autor ausmachte. Warmherzig geschrieben, mit der Erkenntnis, dass Glücklichsein immer nur im Jetzt, im Augenblick des Erlebens stattfindet.
AG-Lit • ISBN 978-3-935043-15-1 • 2024 • Hardcover • Format: 20 x 13,5 cm • 172 S. • 24,80 €
Autorenportrait in der Offenbach Post (15.5.24), PDF